Kampfgeist in Indien – Wieso Wohlstand und Armut manchmal sehr nah beieinander liegen

von | Apr 12, 2018 | Deutsch, Indien, Indien Interkulturell, Kultur, Outsourcing, Veränderung, Veränderungsprozesse, Wirtschaft | 0 Kommentare

Vor einigen Jahren, als ich in Mumbai eine Geburtstagsparty zusammen mit Freunden vorbereitet habe und mit einem Freund bei einer Bäckerei Kuchen besorgen wollte, kam uns ein kleiner Junge (ungefähr 10 Jahre alt) mit sehr abgetragener Kleidung und abgetretenen Schuhen entgegen und bat uns um Geld.

Meine Begleitung, welche sehr offenen gegenüber fremden Menschen ist, unterhielt sich mit dem sehr aufgeweckten Jungen, so dass wir einiges aus dem Alltag des Jungen erfuhren. Aus unserer Sicht hörte sich das nicht sehr „kindgerecht“ an und das Mitleid schlich sich in uns hoch. Meine Begleitung bot dem Jungen am Ende des Gesprächs an, am nächsten Tag zu ihm ins Büro zu kommen, denn er hätte einen Job für ihn. Zu unserem Erstaunen antwortete der Junge sehr selbstsicher und schlagfertig und mit einem breiten Grinsen, dass er das nicht wolle. Er würde ungern seine Unabhängigkeit und die damit verbundene Flexibilität aufgeben. Wir waren ziemlich sprachlos.

Dieser Junge hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Ich hatte das Gefühl, dass er mit seiner Einstellung in Bezug auf Unabhängigkeit und Flexibilität viele seiner Landsleute vertritt. Und das ist mit einem Ehrgeiz verbunden, unabhängig von den Umständen, trotzdem im Leben etwas zu erreichen. Vor allem in materieller Hinsicht.

Also, selbstverständlich spreche ich nicht von denjenigen, die wirklich tagtäglich über das nackte Überleben kämpfen, schauen müssen, wo sie die nächste Mahlzeit für sich und ihre Familie bekommen, und wo sich die nächste Übernachtungsmöglichkeit bietet.

Was ich meine ist, dass in Indien die Menschen versuchen alles irgendwie möglich zu machen. Es gibt für alles eine Lösung. Und wenn es noch so lange dauert dahin zu kommen. Was zählt ist Ausdauer und Fleiß.

Unabhängig davon wie heiß es ist, wie weit außerhalb man von einer Metropole lebt, wie viele Überschwemmungen man durch den Monsun ertragen musste, man behält das Ziel im Auge und lässt sich nicht vom Weg abbringen. Eine Kombination aus Schicksalsergebenheit und „Das-Beste-aus-der-Situation- machen“, lässt Inder erfinderisch machen. Und bei Erfolg, steigt der Ehrgeiz, es wieder zu versuchen und nicht aufzugeben. Also „Trial and Error“.

Außerdem verleitet der wirtschaftliche Boom die Menschen dazu daran teilhaben zu wollen. Dass die Inder erfinderisch sind, zeigt die Initiative „Jugaad Innovation“ aka „Frugal Innovation“,  was so viel wie „erfinderisch“ bzw. erfinderische Innovation bedeutet. Hier werden Produkte in einem Schwellenland konzipiert und entwickelt, die dann später durch „Reverse Innovation“ bzw. „Umkehr-Innovation“ auch den Weg in westliche Länder finden (der sog. Bottom-Up-Ansatz, also von unten nach oben). Davon gibt es eine Menge.

Es gibt eine enorme Start-Up-Kultur in Indien und enorm viele, die damit auch noch erfolgreich sind. Millionäre sprießen quasi wie Pilze aus den Böden.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass man sich in der westlichen Welt, eher missgünstig erfolgreichen Menschen gegenüber ist und sich eher darüber freut, wenn jemand nicht erfolgreich ist. Ja, ich wage es sogar, Schadenfreude zu nennen. Endlich ist das Scheitern eingetreten, das man vorausgesagt, wenn nicht sogar gewünscht hatte. Scheitern ist, in etwas nicht erfolgreich zu sein. Mich hat dies aber immer wieder zum Aufstehen gebracht und meinen Ehrgeiz erst recht geweckt. Denn Scheitern gibt es nicht, sondern nur Lektionen.

Jeder in Indien möchte Teil dieses Booms sein. Wie auch immer, in welcher Schicht auch immer. Durchbeißen gehört zum indischen Traum. Dazu gehört es eben auch mal nicht erfolgreich zu sein. Das haben vor allem erfolgreiche Menschen weltweit gemein.

Die Bedeutung von Ehrgeiz ist „die Eigenschaft, dass man sich sehr anstrengt, um viel zu leisten und dafür Anerkennung zu erhalten.“

Beobachten wir weiterhin, wie sich die Gesellschaft in Indien entwickelt, und ob der Hunger nach Erfolg (mag er materiell sein oder rein intrinsische Faktoren) weiterhin anhält. Aus kultureller Hinsicht, würde ich behaupten, dass da noch eine Weile anhält. 

Text: Purvi Shah-Paulini

Bild: Purvi Shah-Paulini

Besuchen Sie mich im Sozialen Netzwerk.

Publikation

Neueste Podcast Episoden

Episode 8-21: Die Weisheitswerkstatt 2. Interview mit Ajahn Michael „Wie entsteht Leid?“

Warum nennt Buddha sich Beklagen, Geburt, Kummer usw. Leid? Man könnte sagen, dass diese Begrifflichkeiten zu Leid führen. Sie sind eigentlich nicht per se Leid. Aber Buddha hat es, so wie oben beschrieben, definiert. Warum? Das ist eine der Fragen, die Ajahn Michael sich lange gestellt hat. Durch lange Recherchen in der Neurologie, der Psychotherapie und der Psychopathologie hat er Tools gefunden, um genau das zu verstehen. Seine interessanten Entdeckungen, v.a. dass die Lehren des Buddha kongruent mit den genannten Wissenschaften sind, teilt er mit uns in diesem Interview.

Dieses Interview schließt zwar an das erste Interview mit Ajahn Michael an, steht aber für sich und kann somit auch ohne Vorkenntnisse angeschaut bzw. angehört werden.

Folge 7/21: Die Weisheitswerkstatt Interview mit Ute Marke „The Mad Mom Cycling“ (Englisch)

„Wir sind eine menschliche Rasse. Wir haben alle die gleichen Sehnsüchte und Träume … wir haben alle die gleichen Hoffnungen … und wir machen alle die gleichen Dinge durch. Wir sollten aufhören, uns auf Religion, Geschlecht oder auf nationale Aspekte zu beschränken. Das ist in meinen Augen einfach Unsinn … Ich betrachte mich einfach als Teil der menschlichen Rasse. Ich verneige mich vor Indien, weil Indien mir erlaubt, so zu sein, wie ich bin“ – Ute Marke

Ute Marke, deren Spitzname „The Mad Mom Cycling“ lautet, ist Diplom-Ökonomin mit fundierter Erfahrung in der Telekommunikationsbranche mit starkem Fokus auf menschenzentrierter Digitalisierung. Heute unterstützt sie junge Unternehmen in der Green Economy mit strategischer Beratung und Betreuung. Sie hat lebensverbessernde soziale Projekte in Afrika und Indien ermöglicht.

Woher kommt ihre Leidenschaft für Indien? Was hat ihr dieses Land gegeben? Welche Beziehung hat sie zur Spiritualität und wie sieht sie sich selbst und wie sehen andere sie? Und natürlich sprechen wir über Leadership und Change, Resilienz und nachhaltige Zukunft. Was können deutsche Unternehmen von Indien lernen?

Hören Sie dieser beeindruckenden Frau zu, die mit 45 Jahren das Radfahren gelernt hat und für einen guten Zweck 1000 Meilen durch Lesotho und den Himalaya geradelt ist! Ute, du rockst und B I T T E mach weiter so. Du zeigst der Welt, dass nichts unmöglich ist und alles im Kopf beginnt: die Grenzenlosigkeit oder der Glaube an ein Leben voller Grenzen. Du bist ein Vorbild! Vielen Dank für dieses wunderbare und sehr tiefe Interview. Mit einer tiefen Verneigung.

Episode 6/21: Weisheitswerkstatt Interview mit Christian Ahl „Bewusstsein in der Führung“

Was hat Bewusstsein mit Führung zu tun? Wo fängt Führung an?

Mit dem Bewusstseinsmentor Christian Ahl, der jahrelang als Geschäftsführer in der Industrie Erfahrungen als Führungskraft gelebt hat, spreche ich über Bewusstsein, Leidenschaft und Beziehungen. Diese Attribute (und andere) bestimmen das Leben einer Führungskraft. „Immer wenn ich mit jemand in Interaktion trete, verändere ich die Beziehung“, so Christian. Die meisten Probleme in Unternehmen entstehen auf menschlicher und nicht auf fachlicher Ebene. „Ab wann sehe ich wie sich in meinem Leben Entwicklung vollzieht?“ Das gilt es in unser Bewusstsein zu holen, denn Entwicklung zieht sich durch wie ein roter Faden. Wir sprechen auch über Schulbildung, Sprache und vieles mehr und welchen Einfluss diese auf unsere Gesellschaften hat. Wir sind uns einig, dass es ein Nebeneinander von Typen und Entwicklungsstufen geben darf und soll.

Hören Sie rein in dieses vielseitige Gespräch.

Episode 5/21: Die Weisheitswerkstatt „Business Talk“ mit Carolin Hambrügge über „Frauen im Berufsleben in Indien“ (Englisch)

„Bei der Führung geht es darum, andere durch Ihre Anwesenheit besser zu machen und dafür zu sorgen, dass diese Wirkung auch in Ihrer Abwesenheit anhält.“ (Sheryl Sandberg, COO Facebook)

Carolin Hambrügge ist selbständige Partnerin von GPS – Global Procurement Sevice in Deutschland. In dieser Folge sprechen wir über ihre Buisness-Erfahrungen in Indien und gehen dabei auch auf den Aspekt „Als Frau Geschäfte in Indien machen“ ein, da das Image des riesigen Landes in dieser Hinsicht eher negativ ist.
Genießen Sie das Gespräch und Carolins professionelle Sichtweise sowie ihre lange und tiefe Erfahrung in den deutsch-indischen Geschäftsbeziehungen.

Episode 4/21: Die Weisheitswerkstatt Interview mit Ajahn (Laoshi) Shi Miao Dao über „Metta“

Bei der Meditation geht es nicht um den Versuch, irgendwo hinzugelangen. Es geht darum, dass wir uns selbst erlauben, genau dort zu sein, wo wir sind, und genau so zu sein, wie wir sind, und das auch der Welt zu erlauben, genau so zu sein, wie sie in diesem Augenblick ist. – Jon Kabat-Zinn –

Metta ist ein Wort aus der altindischen Pali-Sprache, die zu Zeiten des historischen Buddha gesprochen wurde.
Es bedeutet so viel wie liebende Güte, Herzenswärme, Wohlwollen, im engeren Sinne leitet es sich aus den Worten „Freundlichkeit“ und „Sanftheit“ ab.

Ajahn Michal möchte es am liebsten nicht übersetzen, sondern ein nur Metta nennen.
Was das mit uns als Mensch und gleichzeitig mit Politik und Wirtschaft zu tun hat, erfahren Sie in diesem Interview, das meiner Meinung wieder eine wundervolle Tiefe hat und einige neue Perspektiven aufzeigen kann.

Viel Freude beim Hinhören!