Mobilität in Indien
Umweltschutz kommt nicht in Fahrt
Indien ist ein Land mit einem enormen Verkehrswachstum, leidet aber schon heute unter chaotischen Zuständen auf den Straßen. Auch wenn in weiten Teilen des Subkontinents noch jedes Bewusstsein für umweltschonende Mobilitätskonzepte fehlt, gibt es mancherorts erste Ansätze. Ein Durchbruch ist jedoch fraglich – auch wegen mangelnder Unterstützung seitens der Politik.
An diesem Aprilmorgen regnet es im südindischen Bangalore. Trotz des schlechten Wetters hat es ein Mofafahrer besonders eilig. Er überholt einige Rikschas und will bei grün über die Kreuzung. Dort ist aber gerade ein Auto zum Stehen gekommen. Der Mofafahrer bremst, gerät ins Rutschen und kann den Zusammenprall nicht verhindern. Er hat Glück, denn bei seinem Sturz zieht er sich nur einige Schrammen zu – und den Spott der rechtzeitig zum Stehen gekommenen Rikschafahrer. Viele Unfälle in der 3,3 Millionen-Einwohner-Stadt enden ungleich folgenschwerer. Jeder zweite Zusammenstoß nimmt dort einen tödlichen Ausgang, fast immer sind die Betroffenen Fußgänger. Leider spricht einiges dafür, dass sich diese Statistik in Zukunft nicht verbessert. Denn der Verkehr wächst vor allem in den Großstädten Indiens rasant und kontinuierlich.
35 Städte in Indien zählen heute schon mehr als eine Million Einwohner. Auch wenn Indiens Bevölkerungsmehrheit noch immer auf dem Land lebt, wachsen die Städte weiter. Indien hat mit einem jährlichen Bevölkerungszuwachs von 15 Millionen Menschen den größten absoluten Zuwachs aller Staaten der Erde. Auf den Straßen der Metropolen rivalisieren Lastwagen und Busse, Pkws und Taxis, Motordreiradroller mit Sitzkabine und Rikschas sowie unzählige Fahrräder und Fußgänger um ein ungehindertes Fortkommen. Statt Verkehrsregeln gilt meist das Recht des Stärkeren, Hupen signalisiert Vorfahrt, der Schwächere weicht aus. Im Gewühl der motorisierten Fahrzeuge dominieren eindeutig die Zweiräder: Unzählige Mofas, Mopeds und kleine Motorräder bahnen sich ihren Weg. Viele befördern in ihren teils kreativen, teils wagemutigen Aufbauten Gütermengen, für die in Europa ein Kleinlaster eingesetzt würde. Rund 42 Millionen solcher Gefährte fahren auf den Straßen Indiens, das sind 70 Prozent aller dort betriebenen Fahrzeuge.
Auch wenn sich an der Dominanz der Zweiräder so schnell nichts ändern wird, wächst in Indien, ähnlich wie in China oder Indonesien, die Nachfrage nach Autos. Elf Millionen Kraftfahrzeuge sind auf dem Subkontinent heute zugelassen, bei über einer Milliarde Einwohnern eine für europäische Verhältnisse lächerlich kleine Zahl. Aber der indische Markt weist mit fast 20 Prozent die weltweit höchsten Zuwachsraten auf, so dass sich der PKW-Bestand pro Tausend Einwohner von 2000 bis 2020 auf dann 15 mehr als verdreifachen wird. In Deutschland sind es übrigens über 500.
Die Gründe für die zunehmende Motorisierung reichen mehr als 15 Jahre zurück. Als Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten leitete Indien 1991 wirtschaftliche Reformen ein. Die Deregulierung und die Stärkung von Privatwirtschaft und Wettbewerb blieb – wenn auch nur für eine geringe Bevölkerungszahl – nicht ohne Folgen. Die Öffnung des Landes auch für ausländische Investoren brachte einen Modernisierungsprozess in Gang, der vor allem bei jungen, gut ausgebildeten Indern in einen Wertewandel mündete und so eine Distanz zum tradierten Gesellschaftsmodell schuf. Mit zunehmender Orientierung an den Westen gewann für diese Bevölkerungsteile auch das Auto eine neue Bedeutung. „Nach 1991 ist eine neue Generation herangewachsen, die ein anderes Bewusstsein für Konsum entwickelt hat. Für diese ist Automobilität auch Teil einer persönlichen Statusdarstellung“, sagt Dr. Stefan Carsten, der als wissenschaftlicher Berater für die DaimlerChrysler AG derzeit in Bangalore die Mobilitätsentwicklung in Indien erforscht.
Von Reformen und Wirtschaftsaufschwung im Land profitieren längst nicht alle Inder. So haben nach Angaben der Weltbank 44 Prozent der Einwohner weniger als einen Dollar pro Tag zur Verfügung. Noch immer arbeiten etwa zwei Drittel der Bevölkerung in der Landwirtschaft, profitieren aber nur selten vom Hightechboom in den Metropolen. Bei der Wahl der Verkehrsmittel bleibt ihnen bestenfalls die Entscheidung zwischen Fahrrad und Bus. Doch die Zahl derer, die es sich leisten können, vom Zweirad auf das Auto umzusteigen, wächst stetig. Mit den erwartbaren Folgen: „Der Verkehrssektor wird sich für Indien zu einem absoluten Problemfall entwickeln“, prophezeit Dr. Carsten. „Die Luftqualität in den Großstädten ist schon heute katastrophal und die Verkehrsverhältnisse chaotisch.“
Dennoch werden Umweltaspekte und alternative Mobilitätskonzepte wenig thematisiert. „Außer in einigen Forschungseinrichtungen wird den Folgeproblemen des Verkehrswachstums kaum Beachtung geschenkt“, hat Dr. Carsten festgestellt. „Investitionen in den Verkehrssektor werden meist nach dem Gieskannenprinzip verteilt und Vorgaben der Politik fehlen gänzlich.“ Die bemüht sich vor allem darum, Investoren und damit Kapital ins Land zu locken, aber eine angemessene Infrastruktur ist hierfür noch nicht vorhanden. Das ungebremste Wachstum der Städte trägt ein Übriges dazu bei, dass der Straßenbau kaum nachkommt, von einer vernünftigen Verkehrsplanung ganz abgesehen.
Jedoch gibt es vereinzelte Initiativen, um der wachsenden Luftverschmutzung durch Abgase zu begegnen. So setzt die Metropole Dehli auf erdgasbetriebene Taxen und Busse, die rund ein Viertel weniger Schadstoffe emittieren. Die Stadt wirbt um Nachahmer, doch andere Städte wie Mumbai haben abgesehen von ihrer wortreichen Unterstützung bislang keine Schritte eingeleitet.
Andernorts setzt man auf weitergehende Alternativen. Nach siebenjähriger Entwicklungszeit baut das Unternehmen Reva seit 2001 Indiens erstes Auto ohne jeden Schadstoffausstoß: Das Elektroauto für den Stadtverkehr ist 40 km/h schnell und fährt zwei Erwachsene mit zwei Kindern mit einer Batterieladung 80 Kilometer weit. Die Verantwortlichen bei Reva wollen noch mehr. Nachdem der Prototyp für ein neues Brennstoffzellenfahrzeug schon gebaut ist, arbeitet man nun an der Markteinführung. Die Vision des Unternehmens ist eine schadstoffarme urbane Mobilität. Mit bislang 1.800 verkauften Einheiten weltweit ist Reva davon jedoch noch weit entfernt und bleibt darauf angewiesen, dass Indiens junge Generation umweltfreundliche Mobilität für sich entdeckt.
Indien wird demnach kaum eine Vorreiterrolle für umweltschonende Mobilitätskonzepte einnehmen. Die daraus resultierende wachsende Abhängigkeit von ausländischen Ölimporten – schon heute müssen jährlich 80 Millionen Tonnen Rohöl importiert werden, bei steigender Tendenz – könnte immerhin dazu führen, dass sich die Politik zur stärkeren Förderung von Erdgas und Autogas als Kraftstoff durchringt. Dazu müssten auch die Ausgaben für Forschung und Entwicklung für diesen Bereich deutlich angehoben werden. Doch hierzu scheint die Regierung – auch auf Betreiben der einflussreichen Industrielobby – bislang nicht bereit.
Text: Michael Rinker
Bild: Strasse in Südindien (C) Carolin Gevers
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